Interviews
Interview Domradio musica: "Entschleunigte Musik"
FonoForum Interview zur CD 'Vocation' Hildegard von Bingen
Interview anlässlich des Erscheinens der Soler-CDs
Von: Robert Nemecek
Die Pianistin Marie Luise Hinrichs hatte schon immer eine Vorliebe für entlegenes Repertoire.
Mit ihren Aufnahmen der Sonaten von Padre Antonio Soler hat sie diesen so gut wie vergessenen
Komponisten des 17. Jahrhunderts wieder ins Gedächtnis
zurückgerufen, und auch ihr jüngstes Projekt umweht die Aura
des Außergewöhnlichen. Denn diesmal stammt die Musik aus
dem Mittelalter. Komponiert hat sie die große Mystikerin,
Theologin und Komponistin Hildegard von Bingen (1098–
1179), die seit ihrer Wiederentdeckung in den 80er Jahren eine
erstaunliche Renaissance erlebt hat. Auch Marie Luise Hinrichs
ist der Magie der Persönlichkeit Hildegards, vor allem aber
dem Zauber ihrer ungewöhnlich ausdrucksstarken Gesänge
erlegen, von denen sie einige auf den modernen Konzertflügel
übertragen hat. Als die Pianistin zu Aufnahmen im Kölner
WDR weilte, waren wir zur Stelle, um uns einen Eindruck von
diesem ungewöhnlichen Vorhaben zu verschaffen. (...)
Als sie (M.L. Hinrichs) ... die weitgeschwungenen Melodien der Hymne „Oh virga ac diadema“ zum Klingen brachte, begann sich der ganze Saal in den Innenraum einer Kathedrale zu verwandeln. Die dabei waren, lauschten andächtig und gespannt. „So etwas hatten wir hier noch nie!“, kommentierte der Aufnahmeleiter das Geschehen und die den Ablauf aus dem Hintergrund beobachtende Sekretärin hauchte ein entzücktes „wunderbar!“ Die Entdeckung der Mystikerin und ersten Komponistin des Abendlandes hatte die in Köln lebende Pianistin einer Freundin zu verdanken, die ihr eines Tages eine Biografie der Hildegard von Bingen in die Hand drückte. Hinrichs, die gerade eine tiefe Krise durchlebt hatte, erinnert sich an ihre erste Lektüre, als wäre es gestern gewesen. „Ich war gefesselt von dieser faszinierenden Frau und wusste gleich: Das ist es! Das will ich auf dem Klavier singen!“ Das erwies sich freilich schwieriger als gedacht. Das Klavier verfügt zwar über gute gesangliche Qualitäten, aber es macht einen großen Unterschied, ob man Bellini’sches Belcanto oder geistliche Vokalmusik des Mittelalters auf das Klavier überträgt. Als die heilige Hildegard um 1100 nach Christi Geburt ihre herrlichen Gesänge zu Papier brachte, lag das moderne Klavier noch in weiter Ferne. Dennoch hielt die Pianistin an ihrem Plan fest. „Ich dachte, wenn ich es schaffe, mich in die Welt der Bingen hineinzudenken, dann wird es auch einen Weg geben.“ Es gab diesen Weg, und Hinrichs beschritt ihn mit bewundernswerter Ausdauer und Beharrlichkeit. Mit Hilfe eines Kirchenmusikers lernte sie die Neumen- Schrift lesen und trat in einen Chor ein, um die Musik im Original zu singen. Mit der Zeit begann sie die Gesänge auf dem Klavier nachzuspielen und im Stil der Komponistin zu improvisieren. Wie aber spielt man einstimmige Vokalmusik aus dem Mittelalter auf dem Klavier? Belässt man es bei der Einstimmigkeit oder nutzt man die Möglichkeiten des modernen Konzertflügels? Hinrichs entschied sich für Letzteres, wobei sie auf den leidenschaftlichen und raumgreifenden Charakter von Hildegards Musik verweist. Ihr Maßnahmenkatalog umfasst Oktavierungen und organale Quintparallelen ebenso wie Tonrepetitionen („O frondes virga“), oder den Einschub von echoartigen Melodiefragmenten („O spiritui sancto“). Im Choral „Ave generosa“ dient der lang anhaltende Ton einer gezupften Bass-Saite als Bordun, später kommen auch Begleitakkorde dazu. Wird dadurch die Aussage der Musik verfälscht? Sicher nicht. Vielmehr erfährt sie eine Intensivierung, die sie auch für den modernen Hörer fasslich macht. Dabei setzt Hinrichs die pianistischen Mittel so dezent ein, dass sie sich nirgends in den Vordergrund drängen. Marie Luise Hinrichs ist fasziniert von der Schönheit dieser Musik, die sie mit Worten wie „fließend“ und „weiblich“ beschreibt. Wenn man mit ihr darüber spricht, wird aber auch schnell deutlich, dass sie damit auch eine Botschaft übermitteln will. Für die Künstlerin manifestiert sich in Hildegards Musik eine Haltung, die sie als „aufrichtig“, „keusch“ und „rein“ empfindet. In einigen Konzerten hat sie die Texte, die von Gottesliebe und der Keuschheit der Mutter Maria handeln, auch vorlesen lassen. Die Reaktionen darauf seien sehr positiv gewesen. Dabei weiß sie nur zu gut, dass die meisten Menschen mit diesen Vorstellungen nicht viel anfangen können. „Aber sie bewundern Hildegards konsequente, aufrichtige Haltung, die heute so selten geworden ist. Zugleich wird ihre Sehnsucht nach einer unversehrten, heilen Welt gestillt. Es ist wie das kurze, blendend helle Aufleuchten einer wunderschönen Gegenwelt, aus der wir noch lange nach ihrem Verlöschen Kraft schöpfen.“
Die CD
Vocation
Werke von Hildegard von Bingen
Marie Luise Hinrichs, Klavier
Raumklang RK 2902
(Vertrieb: Codaex)
Interview WDR Mosaik